top of page

Erkenne Dich Selbst!


MEIN BRUDER:


"Du kennst einen Menschen jahrelang, du bist ihm nah im Beruf, in seinem Familienleben, du hast Einblick in seine privaten Beschäftigungen -, etwa mit Büchern, Theater, etwas Musik vielleicht, etwas Sport -, alles liegt offen vor dir -, .... Ja, es kann sein, dass du selbst seine Kindheit kennst, sein Heranwachsen, das Werden seiner Persönlichkeit, die Entwicklung seines religiösen Glaubens, seiner sozialen und politischen Anschauungen -, alles, alles kennst du von diesem Menschen, an diesem Menschen -, und hast doch kein klares Bild von ihm. Es sind Irrtümer darin, unrichtige Bewertungen, ungenaue oder sogar falsche Urteile -, und du begreifst eines Tages erschrocken, dass du diesen Menschen - trotz allem! - nicht kennst, nicht erkennst. Dieser Mensch, du hast es schon erraten, bist du selbst .... Der GBaW helfe dir!"


Erkenne dich selbst!

von Br. Redner KDG



Mit dieser Aufforderung, die der Meister vom Stuhl dem Neophyten zuspricht, haben

wir einen der Kernsätze des Aufnahmerituals in unseren Maurerbund vor uns, dem

also ganz besondere Bedeutung innerhalb unserer Lebenseinstellung und unserer

königlichen Kunst zukommt. Gleichzeitig müssen wir einräumen, dass dieser Satz

keine freimaurerische Erfindung ist, sondern dass er bereits in der griechischen

Antike als bedeutsam angesehen wurde, wie uns der auf einer der Säulen des

Apollontempels in Delphi eingemeißelte Wortlaut

gnothi seauton

erkennen lässt.

„Die Forderung, sich selbst zu erkennen, zielte ursprünglich“, wie wir bei Wikipedia

nachlesen können, „auf

Einsicht

in die Begrenztheit und Hinfälligkeit des Menschen

(im Gegensatz zu den Göttern). Damit war sein Dasein als Gattungswesen gemeint;

man dachte aber nicht nur an die Menschheit und an prinzipielle Grenzen des für den

Menschen Erreichbaren, sondern der Spruch diente auch oft als Warnung vor der

Überschätzung individueller Möglichkeiten. In zahlreichen Texten der griechischen

Klassik findet sich die Deutung, dass sich der Mensch bewusst sein solle, sterblich,

unvollkommen und begrenzt zu sein. Das Verständnis des Spruchs als Hinweis auf

eine natürliche Schwäche der Sterblichen, die man einsehen solle und deren

Kenntnis zur Bescheidenheit führe, blieb in der gesamten Antike präsent und war

noch in der

römischen Kaiserzeit

geläufig. In diesem Sinne betonte beispielsweise

der römische

Stoiker

Seneca

, es gehe darum, sich die körperliche und geistige

Verletzlichk

eit des Menschen zu vergegenwärtigen; nicht nur ein großer Sturm,

sondern schon eine kleinere Erschütterung könne den Menschen wie ein

zerbrechliches Gefäß in Scherben gehen lassen.“


Nach meinem Verständnis zielt die Aufforderung unseres Stuhlmeisters auf die

Erfassung unseres jeweils individuellen Profils mit all seinen Schwächen und

Stärken, auf die Beleuchtung und Bewusstmachung aller unserer triebhaften und

gemüthaften unterbewussten Vorgänge und Mechanismen, die unsere subjektive

Befindlichkeit beeinflussen und mitgestalten, ob wir wollen oder nicht. Unserem

Willen und unserer Kontrolle aber sind nur die Vorgänge zugänglich, die wir aus dem

Dunkel des Unbewussten in das Licht unseres Bewusstseins und Verstandes ziehen

und damit dem Zugriff unserer Vernunft aussetzen. Unsere Schwächen aber müssen

wir erkennen, um gegen sie fort und fort und immer wieder angehen zu können,

unsere Stärken, um sie zu pflegen und in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen.

Für solche Erhellung und für die Umwandlung unseres inneren Seins aber bedarf es

besonderer Umstände. Ich habe dazu eine von Josef Griesbeck geschriebene

passende Geschichte gefunden:

Ein Mann hatte von einem Einsiedlermönch gehört. Er konnte nicht verstehen,

welchen Sinn so ein zurückgezogenes Leben hat. Er machte sich deshalb auf den

Weg, um den Mönch nach seinen Erfahrungen zu fragen. Als er bei dem Mönch

ankam und ihm sein Anliegen vorgetragen hatte, führte ihn dieser an einen Brunnen,

nahm einen Stein, warf ihn ins Wasser und fragte den Mann: „Schau in den Brunnen!

Was siehst du?“ „Ich sehe nur Wasser, das sich bewegt und leichte Wellen

schlägt.“

Nach einer Weile bat der Mönch den Mann nochmals in den Brunnen zu schauen.

„Was siehst du jetzt?“ „Jetzt – ich sehe mich selber. Ich spiegle mich in dem

ruhigen Wasser. Ich kann deutlich mein Gesicht erkennen.“ „Siehst du“, sagte der

Mönch, „das ist die Erfahrung der Einsiedelei.“

Nehmen wir unsere Seele und unser Gemüt als die Wasseroberfläche dieses

Brunnens, so werden wir nichts erkennen können, wenn in uns durch Aktivitäten,

durch äußere Einflüsse und Betriebsamkeit alles in Erregung und Bewegung ist. Es

bedarf einer Beruhigung der Wasseroberfläche, d.h. des Stillewerdens und der

Seelenruhe, damit die Oberfläche zum Spiegel werden kann, der es uns ermöglicht,

uns selbst beim Hineinblicken zu sehen und zu erkennen.

Unsere Tempelarbeit, liebe Brüder, ist so ein Ruheraum, abgeschottet von aller

profanen Rastlosigkeit, die uns hindert, dass wir uns unserem Wesen und Sein

zuwenden, dass wir Erkenntnisse über uns selbst gewinnen, dass wir Kontrolle und

Einfluss auf die Gestaltung und Zielsetzung unseres Lebensweges erreichen, dass

wir über einen sicheren Maßstab verfügen, um richtig beurteilen zu können, was in

unserem Leben nebensächlich und was wichtig und uns im guten Sinne

wesensgemäß ist.

Ich wünsche uns allen, dass unsere Tempelarbeiten uns diesen wichtigen Dienst

leisten, immer wieder leisten und uns so bei unserem Bemühen um Selbsterkenntnis

und um Verbesserung und um Vervollkommnung voranbringen und unterstützen.


Empfohlene Einträge
Aktuelle Einträge
Archiv
Schlagwörter
Noch keine Tags.
Folgen Sie uns!
  • Facebook Basic Square
  • Twitter Basic Square
  • Google+ Basic Square
bottom of page